Hintergrundwissen
Frage: |
Woher kommt der Name
"Sudetendeutsche"? |
Antwort: |
Von dem rund 330 Kilometer
langen Gebirgszug der Sudeten leitet sich die Bezeichnung
"Sudetendeutsche" ab. Der Name "Sudetendeutsche" wurde vereinzelt schon
im 19. Jahrhundert benutzt und setzte sich seit dem Beginn des 20.
Jahrhunderts, vor allem ab 1919, als Sammelbegriff für die über drei
Millionen Deutschen in Böhmen, Mähren und Sudetenschlesien (= böhmische
Länder) durch. Die Sudetendeutschen sind in sich durchaus vielfältig.
Sie unterscheiden sich nach Mundart, Herkunft und regionaler Kultur
entsprechend den angrenzenden deutschen Regionalbevölkerungen der
Altbaiern, Franken, Sachsen und Schlesier. Ihr Schicksal seit 1918 hat
sie jedoch zu einer politischen Einheit werden lassen. |
Frage: |
Wo liegt diese Gebiet, und
wie groß ist es? |
Antwort: |
Dieses Gebiet der
Sudetendeutschen liegt im Norden Böhmens, Mährens und Sudetenschlesiens
und ist knapp 28.000 Quadratkilometer groß. |
Frage: |
Wie entstand dieses Gebiet? |
Antwort: |
Das Gebiet bestand aus
Böhmen, Mähren und einem nach dem siebenjährigen Krieg 1763 zwischen
Preußen und Österreich verbliebene kleinere Teil von Schlesiens,
welcher bei Österreich geblieben war. |
Die keltische
Vorbevölkerung der Bojer wurde laut dem römischen Schriftsteller
Tacitus von germanischen Stämmen - Markomannen in der Zeit um Christi
Geburt entlang der Elbe in Böhmen und Quaden in Mähren - verdrängt. Im
12. und 13. Jahrhundert riefen dann böhmische Herzöge und Könige
Deutsche als Bauern, Bergleute, Handwerker, Kaufleute und Künstler ins
Land, um vor allem die bis dahin nur sehr dünn besiedelten Randgebiete
erschließen und kultivieren zu lassen. Auch Juden und vereinzelt
Romanen kamen damals ins Land. In der Stadt Prag lebten Deutsche und
Juden bereits spätestens seit dem 11. Jahrhundert.
Die böhmischen Länder, also
auch die Heimat der Sudetendeutschen, war seit dem 10. Jahrhundert ein
Bestandteil des Heiligen Römischen Reiches, wenn auch mit einem oft
großen Maß an Eigenständigkeit. Kaiser wie Karl IV. und Rudolf II.
hatten ihren Sitz in Prag, der Hauptstadt Böhmens. In ihr gründete Karl
IV. 1348 die erste Universität im Gebiet des deutschen Reiches, das
Land erlebte im 14. Jahrhundert eine beispiellose Blüte. Rund 800 Jahre
lang lebten Deutsche und Tschechen fast immer friedlich neben- und
miteinander. Soweit es Spannungen gab, hatten diese eher religiöse und
soziale als nationale Ursachen. Auch wurden diese Konflikte außer in
den Hussitenkriegen (1419/20-1436) nicht gewaltsam ausgetragen. Infolge
dieser Kriege wurden in den 1420er Jahren die bis dahin ziemlich großen
deutschen Sprachinseln in Innerböhmen vernichtet, etwa die Sprachinsel
von Kolin-Kuttenberg-Tschaslau in Ostböhmen. Dies geschah durch
Vertreibung und Assimilation, teilweise aber auch durch physische
Vernichtung der deutschen Bewohner. Die Deutschen in Prag und in den
Grenzregionen überstanden die Hussitenkriege dagegen, wenn auch mit
erheblichen Verlusten, wie beispielsweise in Aussig. Das gesamte Land,
das vor den Hussitenkriegen in Europa eine führende Stellung hatte,
wurde in seiner Entwicklung weit zurück geworfen. Es dauerte rund 200
Jahre, bis dieser Rückstand aufgeholt war.
1526 kamen die böhmischen
Länder und damit auch die Heimatgebiete der Sudetendeutschen unter die
Herrschaft der Habsburger und wurden damit ein Teil Österreichs. Ein
weiteres wichtiges Datum ist die Schlacht am Weißen Berg bei Prag
(1620) als die katholischen Habsburger einen Aufstand böhmischer
Protestanten (darunter gleichermaßen Tchechen und Deutsche)
niederschlugen. Mit der nun einsetzenden Restauration wurde die
tschechische Sprache aus dem öffentlichen Leben teilweise verdrängt.
Für die Tschechen stellt der "Weiße Berg" deswegen bis heute ein
nationales Trauma dar.
Böhmen und Mähren gehörten
zusammen mit ganz Österreich bis 1806 dem römisch-deutschen Reich und
von 1815 bis 1866 dem Deutschen Bund an. 1848 wählten und entsandten
auch die Sudetendeutschen Abgeordnete in die erste deutsche
Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Auch tschechische
Abgeordnete aus Mähren waren dort vertreten, nicht aber tschechische
Abgeordnete aus Böhmen. Die nationalen Leidenschaften waren seit Anfang
des 19. Jahrhunderts wieder entflammt, als die von der französischen
Revolution ausgehende Welle des Nationalismus auch die böhmischen
Länder erfasst hatte. Aber auch diese Auseinandersetzungen blieben bis
zum Jahre 1918 gewaltlos. Einen wesentlichen Anteil an der kulturellen
und wissenschaftlichen Entwicklung der böhmischen Länder hatte nicht
zuletzt die jüdische Gemeinschaft, die ganz überwiegend deutschsprachig
war. Das Nebeneinander von Deutschen, Tschechen und Juden hat
insbesondere in Prag eine einzigartige Kulturlandschaft
hervorgebracht.
Bis 1918 (de iure sogar bis 1919) gehörten die Sudetendeutschen dem österreichisch-ungarischen Habsburgerreich an. Das Ende des Ersten Weltkriegs 1918, brachte die Zerschlagung des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates. Die rund 6,7 Millionen Tschechen forderten einen eigenen Staat, dem auch die industriereichen Siedlungsgebiete der Sudetendeutschen angehören sollten.
Militärische Besetzung des Sudetenlandes (November 1918 bis
Januar 1919)
Nach der Ausrufung der
Tschechoslowakischen Republik (CSR) am 28. Oktober 1918 forderten die
Sudetendeutschen unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der
Völker den Verbleib ihrer Heimatgebiete bei dem zur Republik
Deutsch-Österreich verkleinerten österreichischen Staat, der
seinerseits seinen Willen zum Zusammenschluss mit dem Deutschen Reich
bekundete. Im Vertrauen auf das von den Siegermächten, insbesondere von
US-Präsident Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht leisteten die
Sudetendeutschen nur geringen Widerstand gegen die Besetzung ihres
Landes durch tschechisches Militär (31.10.1918 - 28.1.1919). An
mehreren Orten gab es aber Kämpfe, so bei Zlabings (17./18.11.),
Gastorf (26.11., 2 Tote), in Brüx (27./28.11., mindestens 6 Tote),
Wiesa-Oberleutensdorf (1.12., 2 Tote), Kaplitz (3.12., 2 Tote) und an
mehreren Orten Südmährens (30.11.-11.12.).
Außerdem gab es an einigen
Orten blutige Übergriffe gegen sudetendeutsche Zivilisten, so wurden
auf dem Marktplatz von Mährisch Trübau am 29.11. fünf Zivilisten
erschossen und 20 verwundet. Mehrere Orte wurden mit Beschießung durch
Artillerie bedroht, darunter Brüx (29.11.), Mährisch Schönberg (15.12.)
und Eger (ca. 15.12.). Eine Waffe zur Brechung des Widerstandswillens
der Deutschen war der Hunger. Lebensmittel- und Kohlelieferungen in die
Grenzgebiete und nach Wien wurden sofort ab dem 28.10.1918 rigoros
gestoppt. Außerdem wurden während der Besetzung viele Zeitungen
zensiert und mehrere hundert Deutsche als Geiseln genommen. Angesichts
dieses brutalen Vorgehens konnte die Besetzung auch mit
Eisenbahnerstreiks (in Nordböhmen ab 26.11. für mehrere Wochen, in
Westböhmen am 5.12.) und Massendemonstration in vielen Städten (8.12.)
nicht verhindert werden. Am 3./4.12. gab Außenminister Bauer in Wien
unter dem Druck der katastrophalen Versorgungslage der Stadt der CSR zu
verstehen, dass kein Widerstand mehr geleistet werden würde. Bis
Weihnachten waren rund 80% der deutschen Gebiete besetzt, bis zum
Jahresende etwa 95%. Dieses Vorgehen verstieß nicht nur gegen das
Selbstbestimmungsrecht der Völker, sondern vielfach auch gegen die
Haager Landkriegsordnung von 1907.
Ferner gab es von November
1918 bis Januar 1919 und erneut von Mai bis Juli 1919 größere
Operationen des tschechischen Militärs gegen Ungarn, um die
Zugehörigkeit der Slowakei zur neugegründeten Tschechoslowakei zu
sichern. Die slowakische Bevölkerung verhielt sich gegenüber dem neuen
Staat sehr zurückhaltend. Vieles spricht dafür, dass das slowakische
Volk in einer freien Abstimmung 1918/19 einen tschechoslowakischen
Staat nicht gewollt hätte - nicht zuletzt die Entwicklung der Jahre
1939 und 1992, als jeweils ein eigener slowakische Staat entstand.
Die wahrscheinlich
entscheidende Rolle des militärischen Zwangs bei der Schaffung der
Tschechoslowakei ist ein heute vergessenes Kapitel der Geschichte. Auch
wissenschaftlich sind diese Vorgänge bisher schlecht dokumentiert,
beispielsweise existiert noch keine zusammenfassende Darstellung der
militärischen Besetzung des Sudetenlandes um die Jahreswende 1918/19,
wohingegen es über das Münchner Abkommen von 1938 sehr viele
Darstellungen gibt.
1919 -1945
Am Dienstag, den 4. März
1919 demonstrierte fast die gesamte sudetendeutsche Bevölkerung
friedlich für ihr Selbstbestimmungsrecht. Diese Demonstrationen waren
von einem eintägigen Generalstreik begleitet. Anlass dazu war das
Zusammentreten der Nationalversammlung der Republik Deutsch-Österreich
an diesem Tage, zu dem die Sudetendeutschen Abgeordnete entsenden
wollten, was ihnen durch Beschluss der Siegermächte des Ersten
Weltkrieges verwehrt wurde. Ein weiterer Anlass war die sog.
"Notenabstempelung", mit der das Bargeld einen großen Teil seines
Wertes verlor.
Die Initiative zu diesen
Demonstrationen ging auf die sudetendeutschen Sozialdemokraten, die
seinerzeit stärkste Partei, zurück, wurde aber von allen anderen
Parteien unterstützt. Diese Großkundgebungen wurden an mehreren Orten
gleichzeitig von tschechischem Militär zerschlagen, wobei mehrere
Dutzend Tote und weit über hundert Verletzte zu beklagen waren.
Insgesamt starben 54 Menschen, darunter übrigens mindestens zwei Juden,
nämlich Rosa Heller aus Mies und Alfred Hahn aus Karlsbad. Die jüdische
Bevölkerung des Sudetenlandes empfand sich damals ganz überwiegend als
ein Teil der deutsch-österreichischen Bevölkerung und teilte den Wunsch
der (übrigen) Sudetendeutschen nach Selbstbestimmung.
Leider ging die
parteipolitische Geschlossenheit im Sudetenland nach dem 4. März bald
wieder verloren. Man spaltete sich wieder, was bereits Ende 1918 einer
der Gründe für das Scheitern der militärischen Abwehr gewesen war. Ab
Anfang Mai 1919 gab es ernsthafte Bestrebungen, das Sudetenland von
außen, also von österreichischem und reichsdeutschem Gebiet aus, durch
eine militärische Aktion zu befreien. Insbesondere in Schlesien standen
dafür kampfwillige sudetendeutsche Formationen - die vielzitierten
Freikorps - bereit. Die Annahme des Versailler Vertrags durch
Deutschland Anfang Juni 1919 machte diese Pläne jedoch zunichte.
Gegen ihren ausdrücklichen
Willen wurden die Sudetendeutschen nun mit dem Vertrag von St. Germain
vom 10.9.1919 einem neuen Staat, eben der Tschechoslowakei,
zugeschlagen, den sie nicht wollten, und an dessen Namen, Verfassung
und Gründung sie keinen Anteil hatten und der seit seiner Gründung die
Rechte seiner nicht-tschechischen bzw. nicht-slowakischen Bürger in
vielen Lebensbereichen zwanzig Jahre lang systematisch
missachtete.
Es ist festzuhalten, dass
die USA - beraten von Harvard-Professor Archibald Coolidge - in St.
Germain am längsten und am entschiedensten gegen die Ungerechtigkeit
der neuen Friedensregelung eintraten. Anders als Frankreich, England
und Italien verweigerten sie die von der Tschechoslowakei am 20.12.1918
geforderte nachträgliche Zustimmung zur Besetzung des Sudetenlandes und
plädierten für die Zugehörigkeit zumindest eines Teils des
Sudetenlandes zu Österreich bzw. Deutschland entsprechend dem
Selbstbestimmungsrecht. Sie haben sich aber letztlich nicht gegen
Großbritannien und vor allem Frankreich durchzusetzen vermocht. Der
US-Kongress erkannt aber die Ungerechtigkeit der Pariser Vorortverträge
und verweigerte ihre Ratifizierung.
Maßgeblichen Anteil an der
Entstehung der CSR hatte der Vertraute des späteren Präsidenten Tomas
G. Masaryk, Edvard Benesch. Masaryk erklärte später überzeugend, dass
es ohne Benesch nicht zur Entstehung der CSR gekommen wäre. Benesch
agierte bei den Pariser Friedenskonferenzen mit großem Geschick, aber
auch skrupellos, wie seine vor Fälschungen strotzenden Denkschriften
("Memoires") für die Friedenskonferenz zeigen. Die Manipulationen
Beneschs in Paris waren so gravierend, dass später ein
tschechoslowakisches Gesetz strenge Reglementierungen für Darstellungen
der Entstehungsgeschichte der CSR festlegte: Laut dem
CSR-Staatsschutzgesetz vom 19.3.1923 konnten solche Darstellungen als
"Aufwiegelung" mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft werden (vgl.
v.a. § 14, 1 dieses Gesetzes); das Delikt war zwischen "militärischem
Verrat" und "Aufreizung zum Rassenhass" eingeordnet. Die Darstellung,
die Sie soeben lesen, hätte den Verfasser in der CSR der
Zwischenkriegszeit geradewegs ins Gefängnis gebracht.
Die Bevölkerung der Tschechoslowakei setzte sich 1921 zusammen aus 6,6 Mio. Tschechen, 3,2 Mio. Deutschen, 2,0 Mio. Slowaken, 0,7 Mio. Ungarn, 0,5 Mio. Ruthenen (Ukrainern), 0,3 Mio. Juden (davon 180.000 sog. "Nationaljuden" - die CSR hatte als erstes Land der Welt das Judentum nicht nur als Konfession, sondern auch als Nationalität anerkannt), 0,1 Mio. Polen, außerdem Sinti und Roma (Zigeuner), Kroaten und weitere Gruppen.
Obwohl die Gründung der CSR
angesichts der beschriebenen Ereignisse in scharfem Gegensatz zu den
Sudetendeutschen erfolgte, unterstützten sie bei den Wahlen der
zwanziger und frühen dreißiger Jahren mit großer Mehrheit die
staatsbejahenden (sog. "aktivistischen") Parteien. Diese waren
zeitweilig sogar an der Regierung beteiligt und stellten einzelne
Minister, konnten aber dennoch nicht eine systematische, gegen die
Sudetendeutschen gerichtete Assimilierungs- und
Entnationalisierungspolitik verhindern. Eine Schlüsselrolle bei dieser
tschechischen Verweigerungspolitik gegen alle deutschen
Ausgleichversuche spielte wiederum Edvard Benesch (1918-1935
Außenminister, 1935-1938 Staatspräsident), der dann später, ab etwa
1940, vom Exil aus die Vertreibung der Sudetendeutschen diplomatisch
und organisatorisch vorbereitete.
Entgegen dem Versprechen
Beneschs von 1919, aus der Tschechoslowakei eine Art zweite Schweiz zu
machen, begann die tschechoslowakische Staatsführung alsbald eine offen
anti-sudetendeutsche Politik:
Eine Folge dieser Politik
war, dass Mitte der dreißiger Jahre die Arbeitslosigkeit im Sudetenland
etwa fünfmal höher war als in den tschechischen Landesteilen.
Praktisch die gesamte
Wirtschafts- und Kulturpolitik stand im Dienste der Idee, den Staat zu
tschechisieren und aus dem fiktiven einen tatsächlichen Nationalstaat
zu machen. Insbesondere die Umsetzung der Bodenreform Anfang der 20er
Jahre und die Verdrängung der Deutschen durch Tschechen im Staatsdienst
liefen im Ergebnis auf eine tschechische Siedlungspolitik im
Sudetenland hinaus.
Bald nach 1919 erhielten
alle Orte im Sudetenland tschechische Namen. Die meisten hatten zwar
bereits seit Jahrhunderten auch einen tschechischen Namen (ebenso wie
sehr viele Orte Innerböhmens auch einen deutschen Namen hatten und
haben), nun wurde noch dem letzten Dorf ein neu erfundener
tschechischer Namen verpasst. Dieser stand nun auf allen Ortsschildern
und Wegweisern oben, und zwar selbst dort, wo keine oder fast keine
Tschechen lebten. Paradoxerweise nahm die CSR damit die spätere Praxis
des Protektorats vorweg, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Dort standen
nun die deutschen Namen oben, selbst in rein tschechischen Gebieten.
Demgegenüber gab es in der k.u.k.-Monarchie die Praxis der
Beschilderung in der ortsüblichen Sprache: Deutschsprachige Orte wurden
deutsch und tschechischssprachige tschechisch beschildert. Im
unmittelbaren Sprachgrenzbereich und in zweisprachigen Städten wie Prag
und Brünn war die Beschilderung zweisprachig. Dies entsprach und
entspricht den Verhältnissen in der Schweiz. Ab 1918 wurde nun genau
dieser Zustand beseitigt, dabei hatte Benesch in Paris versprochen,
Schweizer Verhältnisse einzuführen.
Auch kam es zu einer
starken Militarisierung des Sudetenlandes. So wurde entlang der Grenze
zu Deutschland und Österreich in enger Zusammenarbeit mit Frankreich
ein gewaltiges Festungssystem gebaut (die sog. "tschechische
Maginot-Linie"), dessen Errichtung riesige - auch von sudetendeutschen
Steuerzahlern aufgebrachte - Beträge verschlang. Jedoch waren
sudetendeutsche Baufirmen von der Auftragsvergabe weitgehend
ausgeschlossen, da sie als "staatlich unzuverlässig" galten.
Durch diese ganze Politik
stieg etwa in der Stadt Komotau der tschechische Bevölkerungsanteil,
der dort vor dem Ersten Weltkrieg bei unter 3 % lag, schon bis zur
Volkszählung von 1930 auf über 13 % und bis zum Münchner Abkommen von
1938 auf schätzungsweise 20%. Unter den Staatsbediensteten von Komotau
waren 1930 bereits über 40 % Tschechen. Ab 1919 stieg der tschechische
Bevölkerungsanteil im Sudetenland jährlich um knapp einen Prozentpunkt.
Bei einer unveränderten Fortsetzung dieser Politik wären die
Sudetendeutschen auch ohne Münchner Abkommen, Krieg und Vertreibung in
wenigen Jahrzehnten - nämlich im Laufe der 70er Jahre - zur Minderheit
im eigenen Land geworden.
Tatsächlich hatte die
tschechoslowakische Politik dieser Zeit gegenüber den Sudetendeutschen
viele Parallelen zur heutigen Politik der VR China gegenüber Tibet, mit
dem zentralen Unterschied freilich, dass die CSR unbestreitbar eine
Demokratie war. Während die anti-tibetische Politik Chinas von einem
diktatorischen Regime verantwortet wird, das jede Kritik unterdrückt,
hatten die Sudetendeutschen den "Vorteil", dass sie zwar gegen die
gegen sie gerichtete tschechische Dominanzpolitik ziemlich frei
protestieren konnten (auch hier gab es Einschränkungen), nur wurden sie
eben von einer formal demokratischen tschechischen bzw.
tschechoslowakischen Mehrheit im Parlament zwanzig Jahre lang wieder
und wieder überstimmt.
Diese Feststellung ist in
zweifacher Hinsicht wichtig: Zum einen erklärt sie die zunehmende
Kritik und auch Ablehnung der parlamentarischen Demokratie (nicht des
freiheitlichen Rechtsstaats) bei vielen Sudetendeutschen in den 30er
Jahren. Zum anderen stellt sich hier natürlich die Frage nach der
Verantwortung der tschechischen demokratischen Parteien, ja letztlich
der tschechischen Wähler für eine überaus nationalistische Politik, die
zwanzig Jahre lang einen bedeutenden Teil des eigenen Bevölkerung (23%
Deutsche und ca. 5% Ungarn) systematisch benachteiligte, Man muss diese
Frage auf die tschechischen Parteien und Wähler beschränken, da sich am
Ende sogar die Slowaken von dieser Politik abwandten und angesichts des
Prager Zentralismus selbst Autonomie verlangten.
Diese Politik zeigt im
übrigen exemplarisch, wie bei nahezu voller Wahrung der
Gleichberechtigung des einzelnen Bürgers dennoch große
Ungerechtigkeiten durch die Ungleichbehandlung ganzer Volksgruppen
entstehen können.
Diese Politik der CSR
verstieß aber nicht nur gegen Moral und politische Vernunft, sondern
auch gegen von der CSR eingegangene internationale Verpflichtungen,
namentlich gegen das Minderheitenschutzabkommen von 1922. Die
Sudetendeutschen protestierten dagegen mit nicht weniger als 24
Eingaben und Beschwerden beim Völkerbund in Genf, allerdings ohne jedes
Ergebnis. Grund dafür war nicht nur die Schwäche des Völkerbundes als
Institution, sondern auch der persönliche Einfluss, den Edvard Benesch
als Außenminister der CSR und enger Verbündeter Frankreichs dort
hatte.
Diese Politik führte
allmählich zu einer tiefen Entfremdung zwischen den Sudetendeutschen
und dem tschechoslowakischen Staat. Insbesondere führte sie dazu, dass
die staatsbejahenden sudetendeutschen Parteien (Sozialdemokraten,
Christlich-Soziale und Bund der Landwirte) ihren Wählern gegenüber
vollständig bloßgestellt wurden. Bei den Parlamentswahlen von 1935 kam
es schließlich zum Erdrutschsieg der neugegründeten Sudetendeutschen
Partei (SdP) unter Führung von Konrad Henlein. Einer der Gründe für
dieses Wahlergebnis war das wenig glückliche Agieren der
sudetendeutschen Sozialdemokratie unter ihrem damaligen Vorsitzenden
Czech, der die nationale Herausforderung der Deutschen entweder nicht
voll erkannte oder nicht politisch thematisieren wollte. Dies im klaren
Unterschied zu seinem Vorgänger Josef Seliger und zu seinem Nachfolger
Wenzel Jaksch. Auch diese lehnten jeden anti-tschechischen
Nationalismus ab (von dem die SdP nicht frei war), aber sie hatten
keine Illusionen darüber, dass es für die Deutschen in der CSR - um es
vorsichtig zu sagen - nicht nur sozialpolitische Probleme gab.
Das zentrale Ziel der SdP
wiederum war die Durchsetzung der vollen staatsrechtlichen und
politischen Gleichstellung der Sudetendeutschen mit den Tschechen und
Slowaken in Form einer territorialen Autonomie. Zumindest bis zum
November 1937 wurde die territoriale Integrität der CSR von der SdP
nicht in Frage gestellt, wobei zu betonen ist, dass das Streben nach
friedlichen Grenzänderungen damals völkerrechtlich ebenso zulässig war
wie 1919 und wie heute.
Der
sudetendeutsch-tschechische Gegensatz hat sich schließlich im Laufe des
Jahres 1938 infolge des äußeren Drucks Adolf Hitlers (zu dessen
Machtergreifung die Sudetendeutschen nichts beitragen konnten) bis zur
sogenannten Sudetenkrise im September weiter zugespitzt. Zu diesem
Zeitpunkt forderten England und Frankreich von der Tschechoslowakei die
Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich, nachdem
Hitler andernfalls mit Krieg gedroht hatte. Die Westmächte fühlten sich
zum damaligen Zeitpunkt aber für einen Krieg gegen Hitler noch nicht
ausreichend gerüstet. Sie sahen sich auch psychologisch kaum imstande,
in einen Krieg "gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker" zu ziehen,
nachdem der erste Weltkrieg ausdrücklich für dieses Recht geführt
worden war und damals jeder wusste, dass dieses Recht den
Sudetendeutschen 1918/19 vorenthalten worden war. Vielleicht hofften
sie auch, mit der Erfüllung der angeblich letzten Forderung Hitlers
einen großen Krieg ganz verhindern zu können.
Im Grunde genommen standen
die Westmächte vor demselben Dilemma wie bei der Rückgliederung des
Saarlandes (1935), bei der Besetzung des Rheinlandes (1936) und beim
Anschluss Österreichs (März 1938): Sie mussten entweder das
Selbstbestimmungsrecht der Völker oder aber den Grundsatz, dass man
einer aggressiven Diktatur möglichst frühzeitig entgegentreten muss,
missachten. Und sie wussten, dass dieses Dilemma zu einem guten Teil
selbstverschuldet war, weil die Machtergreifung der Nazis ohne die
Ungerechtigkeiten der Pariser Vorortverträge - sprich eben die
vielfache Missachtung des Selbstbestimmungsrechts - kaum denkbar
gewesen wäre. Übrigens haben die meisten Menschen im Saarland, im
Rheinland und in Österreich den einmarschierenden deutschen Truppen
nicht weniger zugejubelt als die meisten Sudetendeutschen im Oktober
1938. Niemand kam aber auf die absurde Idee, ihnen deswegen einen
Kollektivschuldvorwurf zu machen oder sie gar komplett zu enteignen und
zu vertreiben. Dieses blieb den Sudetendeutschen vorbehalten.
Die Abtretung des
Sudetenlandes an das Deutsche Reich war ab etwa Mitte September 1938
praktisch beschlossene Sache, nachdem Frankreich der CSR deutlich
gemacht hatte, deswegen nicht in einen Krieg ziehen zu wollen.
Inhaltlich entsprach die Abtretung dem Vorschlag des damaligen
Vermittlers im Nationalitäten streit, des britischen Lords Runciman
nach seiner Mission im Spätsommer 1938. Lord Runcimans Abschlußbericht
bleibt in seiner nüchternen und objektiven Schilderung der Verhältnisse
im Sudetenland seit 1918 ein zeitlos gültiges Dokument, das aber heute
in der CR weitgehend ignoriert wird.
Das von England und
Frankreich vorgebrachte Verlangen nach Abtretung des Sudetenlandes -
verbunden mit dem Hinweis, die CSR in einem eventuellen Krieg mit
Deutschland um das Sudetenland nicht zu unterstützen - wurde von Prag
am 21. September 1938 angenommen. Der CSR ging es am Ende vor allem
noch darum, eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit des
Sudetenlandes zu verhindern. Man war sich allgemein darüber im klaren,
dass eine solche Abstimmung eine riesige Mehrheit für Deutschland
ergeben würde. Erst im April hatten 99% der Österreicher in einer
weitgehend freien Abstimmung nachträglich den "Anschluss" gutgeheißen.
Die CSR wollte eine solche Abstimmungsniederlage vermeiden und
vielleicht auch eine Möglichkeit bekommen, langfristig die
Rechtmäßigkeit der Abtretung zu bestreiten. Diesem Wunsch der CSR
entsprachen die Westmächte: Die Abtretung erfolgte ohne Volksabstimmung
und ohne eine tschechoslowakische Unterschrift.
Das darauf folgende
sogenannte Münchner Abkommen vom 29. September 1938 regelte dann nur
mehr die Durchführung der Übergabe der sudetendeutschen Gebiete an
Deutschland. Im Text dieses Abkommens ist nicht von der "Abtretung",
sondern von der "Räumung" des Sudetenlandes die Rede. "Räumung" ist
eigentlich ein militärischer Begriff. Man kann annehmen, dass mit
dieser Wortwahl bewusst auf die diplomatischen Noten vom Dezember 1918
und Januar 1919 Bezug genommen wurden. Darin hatten Frankreich,
Großbritannien und Italien, also die Signatarmächte des Münchner
Abkommens neben Deutschland, die militärische Besetzung des
Sudetenlandes gebilligt.
Dieses Abkommen wurde von
der internationalen Presse überwiegend positiv bewertet, als ein
notwendiges Zugeständnis zur Bewahrung des Friedens in Europa. Das
britische Unterhaus war am Tage vor der Abreise Chamberlains nach
München gar in minutenlangen Jubel ausgebrochen, nachdem der
Premierminister seinen Flug nach München bekanntgegeben hatte. Zu
seiner Überraschung wurde sogar der französische Ministerpräsident
Daladier nach seiner Rückkehr in Paris gefeiert - er hatte Proteste
erwartet.
Es erscheint klar, dass
unter diesen Umständen das Abkommen auch in Deutschland, Österreich und
im Sudetenland selbst von einer Mehrheit der Bevölkerung gefeiert
wurde. Außer der Freude, dass ein deutschsprachiges Gebiet zu
Deutschland kam, trat die Erleichterung, dass der allseits befürchtete
Kriegsausbruch noch einmal abgewendet werden konnte. Eine - vor allem
sozialdemokratische - Minderheit unter den Sudetendeutschen hat
übrigens bis zuletzt gegen die Angliederung an das damals
nationalsozialistische Deutschland gekämpft. Erst viel später wurde
bekannt, dass es Hitler im September 1938 gar nicht um die "Befreiung"
der Sudetendeutschen gegangen war, sondern dass er bereits zu diesem
Zeitpunkt den Kriegsausbruch anstrebte. Im geschlossenen Kreis
bedauerte er das Abkommen deswegen, für das er sich öffentlich feiern
ließ.
Auch wurde erst später
öffentlich bekannt, dass die Wehrmacht zu diesem Zeitpunkt unmittelbar
davor stand, gegen Hitler zu putschen. Sie wollte unter allen Umständen
den Kriegsausbruch verhindern. Großbritannien freilich wusste von
diesen Plänen und zögerte dennoch nicht, das Abkommen zu unterzeichnen.
Der diplomatische Erfolg Hitlers zerschlug diese Pläne des Widerstands,
nicht zuletzt deswegen war das Münchner Abkommen also rückblickend
verhängnisvoll. Andererseits bleibt es eine Tatsache, dass dieses
Abkommen seinem Inhalt nach völkerrechtskonform war und rechtswirksam
zustande gekommen ist. Die Unhaltbarkeit der Behauptung, das Münchner
Abkommen sei "null und nichtig" bzw. "ungültig von Anfang an (ex tunc)"
belegen auch die Urteile des Nürnberger Internationalen Gerichtshofes
von 1946. Darin wird die Unrechtmäßigkeit der Protektoratserrichtung
vom 15.3.1939 ausdrücklich damit begründet, dass diese gegen das
Münchner Abkommen verstoßen habe. Dies setzt voraus, dass das Münchner
Abkommen zumindest bis zum 15.3.1939 gültig war. Unseres Wissens wurde
dieses Argument von der tschechischen Historiographie bisher nicht
beachtet. Es ist auch nicht ersichtlich, wie ihm zu widersprechen
wäre.
All das gehört zur
Vielschichtigkeit des Münchner Abkommens und seiner Vorgeschichte, die
aber von der tschechischen Publizistik und Geschichtsschreibung bis
heute kaum anerkannt wird. Dort wird dieses Abkommen meistens
undifferenziert als ein "Akt des Verrats" dargestellt. Die Ansichten in
dieser Frage sind in der heutigen CR kaum anders als zur
kommunistischen Zeit. Die Sudetendeutsche Landsmannschaft bedauert,
dass diese Simplifizierung in den letzten Jahren sogar außerhalb der CR
an Boden gewonnen zu haben scheint; sie distanziert sich ihrerseits von
der ebenso unhaltbaren Bewertung des Abkommens als einer "Befreiung der
Sudetendeutschen".
Zwar wurde unbestreitbar
das Abkommen 1938 von einer Mehrheit der Sudetendeutschen zunächst als
Befreiung empfunden. Die Ernüchterung kam aber spätestens am 1.
September 1939 und in vielen Fällen schon früher - etwa dadurch, dass
die Bargeldbestände und Sparguthaben der Sudetendeutschen nach dem
Münchner Abkommen mit dem sehr unvorteilhaften Wechselkurs 1 Krone = 12
Pfennig umgestellt wurden. Wie schon im März 1919 verloren die
Sudetendeutschen also wieder einen großen Teil ihres Geldvermögens,
damals an einen fremdnationalen Staat, diesmal für die Aufrüstung. Ein
weiteres Ärgernis für die Sudetendeutschen war, dass Berlin ihnen
ziemlich viele NS-Funktionäre vor die Nase setzte und dass das
Vereinsleben rigoros gleichschaltet wurde.
Nicht einmal die
SdP-Mitglieder hatten ihre uneingeschränkte Freude: Während die
österreichischen Nazis unbesehen in die NSDAP übernommen wurden, gab es
bei den SdP-Mitgliedern eine Einzelfallprüfung. In Berlin wusste man
eben, dass in dieser 85%-Sammelpartei auch sehr viele
Christlich-Soziale, Liberale und andere Nicht-Nazis waren und zog die
Konsequenzen. Dies ging so weit, dass eine ganze Strömung innerhalb der
SdP, der sog. Kameradschaftsbund, der bis zum Sommer 1938 gegen den
Anschluss war, komplett kaltgestellt und seine führenden Vertreter
sogar inhaftiert wurden. Walter Brand, der persönliche Referent Konrad
Henleins, verbrachte deswegen die Jahre 1939-45 im KZ Buchenwald.
Wie unangemessen die
pauschale Verdammung des Münchner Abkommen ist, ergibt sich wohl nicht
zuletzt aus der Tatsache, dass Hitler noch wenige Tage vor seinem
Selbstmord darüber klagte, dass das Münchner Abkommen ihm ein
Losschlagen bereits im Jahre 1938 unmöglich gemacht hätte und er
deswegen den Krieg verloren hätte - ein bemerkenswertes
Entlastungsargument für den vielgeschmähten Chamberlain...
Folgen des Münchner
Abkommens
Eine Folge des Abkommens
war, dass ein großer Teil der seit 1919 im Sudetenland angesiedelten
Tschechen dieses in kurzer Zeit verlassen musste. Einschließlich der
Soldaten verließen bis zu 400.000 Tschechen das Grenzgebiet. Ebenso
mussten einige Sudetendeutsche in umgekehrter Richtung das
innerböhmische bzw. innermährische Gebiet verlassen. Grundlage dieses
doppelten Rückwanderungsprozesses - der unbestreitbar zunächst Formen
einer Flucht hatte - war der Vertrag über Staatsangehörigkeits- und
Optionsfragen vom November 1938. Die Umsetzung des Münchner Abkommens
wurde von einer internationalen Kommission unter britischem Vorsitz vor
Ort überwacht und verlief auf beiden Seiten geordnet und fast
ausnahmslos ohne Gewaltanwendung. Unseres Wissens kam es in weniger als
zehn Fällen zur Gewaltanwendung von Sudetendeutschen gegen
Tschechen.
Der Exodus eines großen
Teils der seit 1919 zugewanderten Tschechen - überwiegend
Staatsbedienstete und Militärs mit ihren Familien - kann auch bei
Anlegen strengster Maßstäbe nicht als Vertreibung bezeichnet werden: Es
gab dabei keine Enteignungen und die seit jeher im Sudetenland lebenden
Tschechen waren davon nicht betroffen. Tatsächlich war die Zahl der
Tschechen im Sudetenland bei der Volkszählung im Mai 1939 noch deutlich
höher (nämlich offiziell 319.000, tatsächlich aber wohl eher 400.000,
weil sich viele zweisprachige Tschechen als Deutsche bekannten) als
1918 (265.000). Es ist also sogar ein Teil der Siedler der
Zwischenkriegszeit geblieben.
Ein schweres Unrecht begann
allerdings sofort nach dem Abkommen: Die meisten der ursprünglich ca.
50.000 Juden im Sudetenland flohen überstürzt. Obwohl einige von ihnen
zunächst blieben und dann Opfer der schlimmsten Verfolgung wurden, kann
man diese Flucht der Juden nur als Vertreibung qualifizieren, da diese
Menschen - anders als die tschechischen Zuwanderer - im Sudetenland
beheimatet waren und außerdem - wiederum im Gegensatz zu den Tschechen
- ihr Eigentum verloren.
Nur wenige Tage nach dem
Münchner Abkommen trat Präsident Edvard Benesch zurück. Die
tschechische Öffentlichkeit machte Benesch damals maßgeblich für das
Abkommen verantwortlich und warf ihm sowohl seine Politik gegenüber den
Sudetendeutschen als auch zu großes Vertrauen auf die Westmächte vor.
Nicht zuletzt verübelte ihm die tschechische Öffentlichkeit seine
fehlende Bereitschaft, trotz weitgehender Kriegsvorbereitungen
(Mobilmachung am 21.9.1938) für die territoriale Integrität der
Tschechoslowakei zu kämpfen. Aus sudetendeutscher Sicht sind diese
Vorwürfe durchaus respektabel. Benesch blieb in den folgenden Monaten
in der Tschechoslowakei der "bestgehasste Mann" und gewann erst nach
Kriegsbeginn allmählich wieder an Rückhalt in der tschechischen
Bevölkerung. Auch diese gut belegte Tatsache ist heute in der CR
weitgehend tabuisiert, obwohl sie ein Ansatz zu einer
sudetendeutsch-tschechischen Verständigung über die Person und Politik
von Edvard Benesch sein könnte. Gegen die historischen Tatsachen wird
aber - bis in Urteile des tschechischen Verfassungsgerichts hinein
(Urteil im Fall Dreithaler vom 8.3.1995) - behauptet, der Rücktritt
Beneschs sei von der "tschechoslowakischen" Bevölkerung als illegitim
angesehen worden.
Eine weitere Folge des
Münchner Abkommens war, dass Anfang November die ungarischen und
polnischen Gebiete der CSR an Ungarn und Polen angegliedert wurden und
dass die Slowaken nun sehr schnell die nationale Autonomie erhielten
(November 1938), die ihnen in den Jahren zuvor immer vorenthalten
worden war. Dies bedeutete zugleich das Ende der Fiktion von der
"tschechoslowakischen" Nation.
Das Unrecht der
Protektoratserrichtung
Bereits Anfang März 1939
wurde der Slowakei und der Karpato-Ukraine ihre erst wenige Monate alte
Autonomie durch einseitige Prager Entscheidung wieder aberkannt. Am 14.
März 1939 riefen daraufhin - nachdrücklich ermutigt aus Berlin - die
Slowaken einen eigenen Staat aus, ungarische Truppen rückten in die
Karpato-Ukraine ein und deutsche Truppen besetzten die Stadt
Mährisch-Ostrau, angeblich um einem polnischen Handstreich
zuvorzukommen.
Hitler begann am 15. März
1939 mit der Besetzung des Restgebietes von Böhmen und Mähren und
erklärte es zum "Reichsprotektorat", nachdem er den
tschechoslowakischen Präsidenten Hacha (seit 5.10.1938 Nachfolger
Beneschs) in der Nacht vom 14. auf den 15. März zur Unterwerfung
gezwungen hatte. Dieser Gewaltakt war ein eklatanter Verstoß sowohl
gegen das Selbstbestimmungsrecht des tschechischen Volkes als auch
gegen das Münchner Abkommen.
Schon der Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich 1938
bedeutete für viele deutsche Nazigegner, vor allem für die
Sozialdemokraten, den Beginn einer Leidenszeit. Dasselbe galt nach 1939
für den - zahlenmäßig freilich zunächst geringen - tschechischen
Widerstand und für die insgesamt etwa 120.000 Juden in den böhmischen
Ländern.
Opfer unter Tschechen,
Juden, Zigeunern und Sudetendeutschen bis Kriegsende
1. Tschechische Opfer
Die Zahl der tschechischen
Opfer der Protektoratszeit ist sehr schlecht erforscht. Hier soll der
Versuch einer Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse gemacht
werden.
Gemäß Bulletin des
Tschechoslowakischen Statistischen Zentralamts vom Dezember 1946 fielen
dem Besatzungsterror zwischen 36.700 und 55.000 Tschechen zum Opfer.
Laut dieser Quelle gibt es 36.700 namentlich bekannte Fälle, die Zahl
55.000 hingegen errechne sich durch einen Unsicherheitszuschlag von
50%. Aufgrund des Zeitpunkts und der Quelle der Veröffentlichung kann
man davon ausgehen, dass diese Zahlen die absolute Obergrenze der
tatsächlichen Verluste markieren, obgleich später noch höhere Zahlen
publiziert wurden, für die aber nie klare Belege, ja nicht einmal
angemessene Plausibilität gegeben wurde. Auch eine Liste der
"namentlich bekannten" 36.700 Fälle wurden unseres Wissens nie
publiziert. Wir halten diese Zahl für unglaubwürdig, weil keine
entsprechenden Ereignisse belegt sind.
In den Wochen und Monaten
nach dem Attentat auf Heydrich (27.5.1942), während der sogenannten
"Heydrichiade", wurden zwischen 1.700 und 1.800 Tschechen
standrechtlich erschossen, einschließlich der mindestens 254 Toten von
Lidice (199 Erschossene und weitere Todesfälle unter den in den KZ
inhaftieren Frauen des Ortes). Diese Erschießungen erfolgten oft aus
geringstem Anlass (Verstoß gegen Meldeauflagen, "Gutheißen des
Attentats", Hören von Feindsendern, unerlaubter Waffenbesitz), aber
doch nicht völlig wahllos. Da sich Karl Hermann Frank im März 1944
dessen rühmte, dass "auch heute noch monatlich rund 100 Todesurteile"
vollstreckt würden, kann die Zahl der hingerichteten, in Polizei- oder
Gestapo-Verhören oder in Haft zu Tode gekommenen Tschechen über 5.000
gelegen haben, wobei aber nicht wenige der Opfer exzessiv hart
bestrafte Kriminelle und nicht Widerstandskämpfer waren.
Es ist auch zu
berücksichtigen, dass infolge der Autonomie des Protektorats sowohl
Gerichte als auch Gendarmerie fast ausschließlich von Tschechen besetzt
war. Deren Urteile und Taten können also nicht nur der
Protektoratsregierung bzw. deren (teilweise) deutscher Spitze
zugeschrieben werden. Dazu folgende Zahlen: Noch im Herbst 1944 standen
340.000 tschechischen Beamten im Protektorat nur 9.000 Deutsche
gegenüber. Dies ist umso bemerkenswerter, als im Gebiet des Protektorat
etwas über 250.000 Deutsche beheimatet waren, vor allem in Iglau, Brünn
und Prag. Da ein Teil der 9.000 deutschen Beamten aus dem Reich kamen,
war der sudetendeutsche Anteil noch geringer.
Weiterhin fielen nicht
wenige - vermutlich einige Hundert, nach tschechischen Angaben mehrere
Tausend - Tschechen, die als Zwangsarbeiter im Reich eingesetzt waren,
den Luftangriffen auf deutsche Städte zum Opfer. Der Begriff
"Zwangsarbeiter" wird hier mit Vorbehalt verwendet, da nicht unbedingt
derselbe Begriff auf diejenigen angewendet werden sollte, die in
Arbeitslagern saßen und auf denjenigen, die als zivile
Arbeitsverpflichtete im Reich eingesetzt waren. Es trifft zu, dass
während des Krieges eine allgemeine Arbeitspflicht für die tschechische
Bevölkerung bestand. Allerdings waren die Tschechen den Deutschen in
sozialer Hinsicht weitestgehend gleichgestellt, sie bekamen
normalerweise dieselben Löhne, die Lebensmittelversorgung im
Protektorat war sogar oft besser als im Reich und es gab dort nur eine
minimale Zahl von Luftangriffen auf die Zentren der Rüstungsindustrie
in Pilsen, Brünn, Pardubitz und Pisek. Die Lebensumstände im
Protektorat waren insgesamt so, dass es zu einem sehr raschen Wachstum
der tschechischen Bevölkerung kam.
Vor allem aber waren die
Tschechen vom Militärdienst freigestellt. Zwar hatte Präsident Hacha im
September 1941, als ein Sieg Deutschlands über die Sowjetunion
bevorzustehen schien, Hitler tschechische Truppen angeboten, Hitler
lehnte dies jedoch ab. Diese Freistellung vom Militärdienst hatte zur
Folge, dass sich nur noch wenige der vielen zweisprachigen Menschen in
Böhmen und Mähren aus national gemischten Familien als Deutsche
bekennen wollten. Damit wurde die nationale Balance gleich doppelt
zulasten der Sudetendeutschen verschoben: Durch deren Dezimierung an
den Fronten und zusätzlich durch einen sehr massiven Anreiz für die
zwischen den Völkern Stehenden, sich als Tschechen zu bekennen. Es
gehört zu den vielen Absurditäten der böhmischen Geschichte, dass sich
die zahlenmäßige Relation der beiden Völker seit den Hussitenkriegen
niemals so sehr zugunsten der Tschechen verschoben hat, wie in den
Jahren 1940-45, also in einer Zeit, in der die vollständige
Germanisierung Böhmens das erklärte langfristige Ziel der
ultra-deutschnationalistischen Herrscher des Landes war.
Mit diesen Feststellungen
sollen die Verhältnisse im Protektorat nicht beschönigt werden. Die
politische Unterdrückung war massiv, vor allem nach dem
Heydrich-Attentat; ein SD-Bericht meldete gar, dass die Tschechen in
dieser Zeit "tatsächlich in der Angst vor Erschießung jedes zehntes
Mannes lebten". Außerdem mussten die Tschechen für die Zeit nach dem
Endsieg Schlimmes befürchten. Geplant war die Umvolkung
(Germanisierung) der Tschechen, was zwar keine physische Vernichtung,
aber doch die Zerstörung der tschechischen Sprache und Kultur (also den
sog. "Ethnozid") bedeutet hätte. Da außerdem die "rassisch
Minderwertigen ausgemerzt" werden sollten, hätten diese Pläne im Falle
ihrer Realisierung sogar den Tatbestand des Völkermordes im Sinne der
UN-Konvention vom Dezember 1948 erfüllt.
Zu erwähnen ist ferner,
dass 1944 bei Kämpfen vor Dünkirchen 170 Tschechen als
Kriegsfreiwillige auf alliierter Seite fielen, an weiteren
Kriegsschauplätzen gab es weitere geringe Verluste auf alliierter
Seite. Wie oben dargestellt, bekannten sich bei der Volkszählung vom
Mai 1939 schätzungsweise 80.000 Tschechen im Sudetenland als Deutsche.
Da sie deutsche Staatsangehörige waren, wurden sie wie "echte" Deutsche
zum Kriegsdienst eingezogen. Die Kriegsverluste auf deutscher Seite
betrugen ca. 5,5 % der Bevölkerung, deswegen ist mit über 4.000
tschechischen Gefallenen in deutscher Uniform zu rechnen.
Fazit: Die Gesamtzahl der
in der Protektoratszeit infolge der deutschen Besatzung umgekommenen
Tschechen könnte 10.000 überstiegen haben. Dies aber vermutlich nur
unter Einbeziehung der exzessiv hart bestraften Kriminellen und der im
Luftkrieg in deutschen Städten gestorbenen tschechischen
Arbeitsverpflichteten bzw. Zwangsarbeiter. - Ein indirekter Hinweis aus
tschechischer Quelle legt eine etwas geringere Zahl nahe: In einer
tschechische Provinzstadt sollte einmal ein Denkmal für die
umgekommenen Tschechen errichtet werden. Man sah dann davon ab, als
sich zeigte, dass nicht einmal jedes zehnte der Opfer tschechisch war
und über 90% jüdisch. Nun ist aber die Zahl der jüdischen Opfer
ziemlich genau bekannt: Sie liegt bei 78-80.000. Falls also die
Verhältnisse in dieser Stadt repräsentativ waren (und nicht etwa dort
eine unverhältnismäßig große jüdische Gemeinde bestand) ist dies ein
Hinweis auf unter 10.000 tschechische Opfer. Gegen Zahlen von weit über
10.000 spricht auch folgendes: Die gesamte tschechische Historiographie
stimmt darin überein, dass die Heydrichiade und Lidice die Höhepunkte
der Verfolgung der Tschechen gebildet haben. Dabei gab es, wie gesagt,
knapp 1.800 Tote. Opferzahlen von weit über 10.000 würden durchaus
nicht zu dieser Gewichtung der Ereignisse in der tschechischen
Historiographie passen.
2. Jüdische Opfer
Die Namen von 77.297 Juden
der böhmischen Länder, die durch den Völkermord der Nazis ums Leben
kamen, sind an den Wänden der Prager Pinkas-Synagoge dokumentiert.
Diese Liste gilt als exakt und auch weitgehend vollständig. Die
jüdischen Gemeinden in der CR gehen von insgesamt 78.000 bis 80.000
jüdischen Opfern der böhmischen Länder aus und diese Zahl erscheint
zutreffend. Damit wurde die jüdische Gemeinschaft um nahezu zwei
Drittel dezimiert, vor der Shoa lebten dort rund 120.000 Juden, wobei
sich die Nazi-Verfolgung möglicherweise auf eine etwas größere Gruppe
bezog: Wer aus der Gemeinde ausgetreten oder nur väterlicherseits
jüdisch war, galt den Nazis immer noch als (Halb-)Jude, nicht aber der
jüdischen Gemeinschaft selbst. Die immer wieder zu lesenden Zahlen von
ca. 140.000 bzw. ca. 240.000 ermordeten tschechoslowakischen Juden sind
nicht falsch, beziehen sich aber auf die Tschechoslowakei in den
Grenzen von 31.12.1938 bzw. 1937 und nicht auf die böhmischen
Länder.
3. Opfer unter Sinti und
Roma (Zigeunern)
Nach Angaben tschechischer
Roma-Verbände starben ca. 6.500 Sinti und Roma der böhmischen Länder
während der NS-Zeit, andere Quellen sprechen von rund 6.000 Toten. Ab
1939 gab es in den böhmischen Ländern zwei Lager für Zigeuner, eines in
Lety bei Pisek in Südböhmen und eines in Hodonin bei Kunstat in Mähren.
Lety wurde ab August 1942 zu einem echten Todeslager. Eine
vergleichende Analyse der überlebenden Berichte aus Lety, die der
amerikanische Historiker Paul Polansky in den 90er Jahren gesammelt
hat, führt zu einer Zahl von ca. 1.300 bis 1.400 ermordeten und
umgekommenen Zigeunern in Lety, das offizielle Prag gibt nur eine Zahl
von etwas über 300 Toten zu. Der Lagerkommandant in Lety und die
Wachmannschaften waren ausschließlich tschechisch, das Lager wurde im
Herbst 1939 eingerichtet, und zwar aufgrund einer tschechoslowakischen
Regierungsverordnung, die am 2. März 1939 ergangen war, also zwei
Wochen vor der Protektoratserrichtung. Nach weiteren Angaben starben
2.600 Sinti und Roma aus den böhmischen Ländern in Auschwitz, weitere
kamen in anderen KZ ums Leben.
Zur Frage der Zahl der
Toten unter den Zigeunern der böhmischen Ländern vertritt Paul Polansky
eine Mindermeinung: Er ist der Ansicht, dass dort vor 1939 nicht ca.
7.000, sondern ca. 35.000 Sinti und Roma dort gelebt hätten, was wegen
einer Manipulation der Statistiken nicht direkt erkennbar sei, und dass
etwa 30.000 von ihnen zu Tode gekommen seien. - Wichtige Arbeiten über
den Völkermord an den böhmischen Roma hat in letzter Zeit Markus Pape
vorgelegt, sie existieren bisher leider nur in tschechischer
Sprache.
4. Sudetendeutsche Opfer
bis Kriegsende
Etwa 180.000
sudetendeutsche Soldaten starben im Krieg oder in Gefangenschaft (die
Angaben schwanken zwischen 175.000 und knapp 200.000), dazu kamen noch
an die 10.000 Todesfälle unter sudetendeutschen Zivilisten bei
Luftangriffen und Bodenkämpfen. Anders als die Städte Innerböhmens
wurden sudetendeutsche Städte massiv bombardiert, beispielsweise
Karlsbad, Aussig, Oberleutensdorf, Troppau und Reichenberg. Auch darin
kann man eine Anerkennung des Münchner Abkommens durch die
Westalliierten sehen, weil wirklich "tschechoslowakische" Städte wohl
nicht angegriffen worden wären. Im Widerstand gegen den
Nationalsozialismus starben knapp 1.000 sudetendeutsche
Sozialdemokraten und vermutlich mindestens mehrere hundert weitere
sudetendeutsche Nazigegner.
Die Vertreibung
Ein fortdauerndes
Verbrechen gegen die Menschheit
Das Ende des Zweiten
Weltkrieges (1945) brachte die Wiedererstehung der Tschechoslowakei,
der die alliierten Siegermächte ohne Befragung der Sudetendeutschen
deren Siedlungsgebiete erneut zufallen ließen.
Die Sudetendeutschen wurden
kollektiv, vollständig und entschädigungslos enteignet und - wie
Millionen andere Deutsche aus dem Osten und Südosten Europas - aus
ihrer jahrhundertealten Heimat vertrieben. Angesichts der grauenhaften
Bilder von den Verbrechen des NS-Regimes, die damals um die Welt
gingen, blieb die Weltöffentlichkeit - mit wenigen Ausnahmen -
gegenüber dem Verbrechen der Vertreibung von über 15 Millionen
Deutschen aus ihrer Heimat stumm.
Die Vertreibung der
Sudetendeutschen, von dem tschechischen Exil-Präsidenten Edvard Benesch
aus dem Londoner Exil geplant und vorbereitet, begann unmittelbar nach
Kriegsende, im Mai 1945. Die kommunistisch geführten tschechischen
Nationalausschüsse und die Terrorgruppen der Roten Garden begannen in
einer ersten Phase mit massenhaften Misshandlungen und Morden,
Austreibungen, Vergewaltigungen und Einweisungen in tschechische
Konzentrationslager (die tatsächlich offiziell so hießen). Bis zum Ende
der Potsdamer Konferenz der Siegermächte am 2.8.1945 waren bereits etwa
750.000 Sudetendeutsche "wild" vertrieben worden oder geflohen. Der
regionale Schwerpunkt dieser frühen Vertreibungen lag in Nordböhmen und
in Südmähren, wo die Entfernung nach Sachsen und Niederösterreich nicht
groß ist, sodass die Menschen einfach zu Fuß außer Landes gejagt werden
konnten.
In den Monaten nach der
Potsdamer Konferenz der Siegermächte, also zwischen September und
Dezember 1945, gab es zunächst nicht viele neue Vertreibungen. Die
mehrdeutigen Formulierungen von Artikel XIII des Potsdamer Protokolls
enthielten eben auch eine Art Moratorium für weitere Vertreibungen, die
dann ab Januar 1946 mit voller Wucht und systematisch organisiert
wieder einsetzen. Das Jahr 1946 war die eigentlich Hauptphase der
Vertreibung.
Von Januar bis November
1946 wurden über 1.000 Eisenbahnzüge mit durchschnittlich je 1.200
ausgeplünderten sudetendeutschen Männern, Frauen und Kindern
vollgestopft und in das besetzte Deutschland verbracht. In den
eineinhalb Jahren von Mai 1945 bis Dezember 1946 wurden ziemlich genau
2,8 Millionen der bis dahin im Lande lebenden 3,2 Millionen
Sudetendeutschen vertrieben. Etwa 250.000 konnten in der Heimat bleiben
- oder mussten bleiben, weil sie Fachkräfte waren und die CSR nicht auf
sie verzichten wollte. Aber auch sie wurden enteignet und viele von
ihnen wurden innerhalb der Tschechoslowakei verschleppt. Nach neuesten
Untersuchungen kamen ungefähr 165.000 Sudetendeutsche direkt bei der
Vertreibung ums Leben, weitere ca. 105.000 starben nach der Vertreibung
an den Folgen derselben in den Aufnahmegebieten, insbesondere an
Hunger, hungerbedingten Krankheiten und mangelnder ärztlicher
Versorgung. Von den in der Heimat verbliebenen Sudetendeutschen
verließen später rund zwei Drittel als Aussiedler das Land.
In der Heimatortskartei
(HOK) für Sudetendeutsche in Regensburg sind die Namen und
Heimatadressen von 225.133 Sudetendeutschen (Stand September 1999) mit
völlig ungeklärtem Schicksal dokumentiert. Manche von ihnen mögen ohne
Wissen der HOK in der Heimat oder in der DDR überlebt haben, der
größere Teil dieser Vermissten sind aber Vertreibungsopfer. Die 19.542
nachweislich Umgekommenen (Stand 1965, diese Zahl wurde leider seither
nicht fortgeschrieben) sind in dieser Zahl noch nicht enthalten. Die
HOK ist keine Institution eines Vertriebenenverbandes. Ihr Träger ist
die Caritas, ihr Auftrag ist in erster Linie die
Familienzusammenführung. Die HOK ist aber auch eine amtlich anerkannte
Auskunftsstelle und wird deswegen vom Bundesinnenministerium
institutionell gefördert.
Jedenfalls bestätigen die
Daten der HOK, die die Grundlage der sog. "Gesamterhebung zur Klärung
des Schicksals der deutschen Bevölkerung in den Vertreibungsgebieten"
von 1965 bilden, sehr gut die bis dahin vorliegenden statistischen
Untersuchungen, insbesondere die des Statistischen Bundesamtes von
1958. Damals wurden die Vertreibungsverluste der Deutschen aus der
Tschechoslowakei mit 273.000 beziffert (aber einschließlich der
Kriegsverluste unter Zivilisten), davon 250.000 Sudetendeutsche und
23.000 Karpatendeutsche.
Beide Untersuchungen wurden
im Auftrag des Deutschen Bundestages durchgeführt. Jedoch müssen an der
Rechnung des Sadistischen Bundesamtes von 1958 heute mehrere
Korrekturen angebracht werden: Die Zahl der zum Stichjahr 1950 in der
DDR lebenden Sudetendeutschen wurde damals um über 200.000 zu hoch
geschätzt. Für sich allein genommen würde dieser Fehler zu einer
Verlustzahl von über 450.000 führen. Es gab aber weitere
Ungenauigkeiten: So wurde die sog. Nationalitätenwechsler nicht bzw. in
viel zu geringem Umfang berücksichtigt. Es gab mehrere Zehntausend
zweisprachige Tschechen, die sich bei der Volkszählung von 1939 als
Deutsche bekannten und 1945 nicht vertrieben wurden. Umgekehrt gab es
mehrere Zehntausend zweisprachige Sudetendeutsche, meistens Menschen
mit einem tschechischen Elternteil oder Ehegatten, die sich ab 1945 als
Tschechen bekannten und ebenfalls der Vertreibung entgingen. Die Zahl
dieser Nationalitätenwechsler kann insgesamt über 160.000 gelegen
haben. Außerdem wurde in der Untersuchung von 1958 die Zahl der
gefallenen Sudetendeutschen vermutlich etwas zu niedrig angesetzt,
hinzu kommen weitere kleinere Ungenauigkeiten. Berücksichtigt man alle
diese Korrekturen, so ist heute mit einem durch Bevölkerungsbilanz
feststellbaren Vertreibungsverlust von rund 270.000 Sudetendeutschen zu
rechnen.
Von tschechischen und
einzelnen deutschen Historikern wird die Zahl der Vertreibungsopfer
dagegen mit "maximal 40.000" angegeben. Allerdings haben die Arbeiten,
mit denen seit 1992 diese Zahl belegt werden sollte, die
"Gesamterhebung" von 1965 und Daten der HOK zunächst schlicht und
einfach nicht zur Kenntnis genommen. Später, nach heftigem Widerspruch
der SL, wurden deren Daten zwar nicht mehr völlig übergangen, aber so
interpretiert, dass nur die 19.452 sog. "Augenzeugentoten" als
Vertreibungsopfer angesehen wurden. Die Daten der Bevölkerungsbilanz,
die in genau dieselbe Größenordnung zeigen, wurden entweder ignoriert
oder beiseite gewischt, letzteres beispielsweise in einer
Pressemitteilung der deutsch-tschechischen Historikerkommission vom
17.12.1996.
Eine detaillierte
Erörterung dieser Frage auf dem neuesten Stand der Diskussion (März
2000) finden Sie in der Rubrik Dokumentation auf dieser Internetseite.
- Die nachfolgende Bevölkerungsbilanz gibt dagegen den Kenntnisstand
der späten 50er Jahre wieder und muss in der beschriebenen Weise
korrigiert werden, was zu etwas höheren Verlustziffern von ungefähr
270.000 führt.
Sudetendeutsche
Bevölkerungsbilanz (Stand 1959)
A. Vor der Vertreibung
1. Vor dem Zweiten Weltkrieg
Sudetendeutsche Bevölkerung im Mai 1939
a) 1938 an das Reich
angeschlossenes
sudetendeutsches Grenzgebiet
3.064.000
b) Olsa-Gebiet (im November
1938 zu Polen,
ab Mai 1945 wieder bei der CSR)
10.000
c) "Protektorat" Böhmen und
Mähren
258.000
3.332.000
2. Veränderungen vom Mai
1939 bis Mai 1945
a) Geburtenüberschuss und
Wanderungsgewinn
+ 163.000
b) Kriegsverluste
(einschließlich Zivilisten)
- 200.000
Zahl der Sudetendeutschen
vor der Vertreibung
(nach heutigem Wissensstand
eher 3,20 Millionen)
3.295.000
B. Nach der Vertreibung
a) Zahl der 1950 in den
Aufnahmeländern lebenden
vertriebenen Sudetendeutschen
2.890.000
b) Abzüglich
Geburtenüberschuss 1945 bis 1950
- 76.000
c) In der CSR/CSSR
verbliebene Sudetendeutsche
+ 235.000
d) 1950 vermutlich noch
lebende Kriegsgefangene,
zivile Internierte, Vermisste und Verschleppte
+ 5.000
Nach der Vertreibung noch
nachgewiesene Sudetendeutsche
3.054.000
C. Verbleib ungeklärt (=
Vertreibungsverluste) -
Nach heutigem Wissenstand
eher etwa 300.000
241.000
(Quelle: Alfred Bohmann,
"Das Sudetendeutschtum in Zahlen", Sudetendeutscher Rat, München
1959)
Diese statistischen
Berechnungen decken sich wie im Text erläutert weitgehend mit der
Einzelerfassung der Sudetendeutschen in den Heimatortskarteien. Dort
sind namentlich dokumentiert:
- nachweisliche Opfer der
Vertreibung (Stand 1965;
inkl.
Olsa-Gebiet u. Hultschiner Ländchen)
19.542
- Sudetendeutsche mit
ungeklärtem Schicksal (Stand 1999;
ohne
Olsa-Gebiet u. Hultschiner Ländchen)
225.133
Von diesen 225.133 Personen
haben zwar wahrscheinlich einige Zehntausend in der DDR oder in der CSR
ohne Wissen der Heimatortskarteien überlebt. Jedoch kannte die HOK 1965
noch exakt 295.026 Sudetendeutsche mit ungeklärtem Schicksal, und unter
den ca. 70.000 Schicksalsklärungen seit 1965 sind viele
Todesfeststellungen. Außerdem konnten seit 1965 über 96.795
Sudetendeutsche, die Anfang Mai 1945 gelebt hatten, von der HOK neu
erfasst werden. Unter ihnen waren ebenfalls viele Vertreibungsopfer,
was heute aufgrund tschechischer Veröffentlichungen von Totenlisten
(v.a. der Totenliste des Hanke-Lagers Mährisch Ostrau) feststeht.
Insgesamt bestätigen die Daten der HOK durchaus das Bild, das sich aus
der Bevölkerungsbilanz ergibt, auch wenn die Zahlen nicht direkt
gleichgesetzt werden können.
Ganz eindeutig erfüllt die
Vertreibung der Sudetendeutschen den Tatbestand des Völkermordes gemäß
der Definition der Internationalen Konvention über die Verhütung und
Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes vom 9.12.1948. Mit dieser
Konvention wurde bereits seit jeher geltendes Völkerrecht kodifiziert,
sie ist deswegen voll auf die Vertreibung der Sudetendeutschen
anwendbar. Ebenso erfüllt die Vertreibung den Tatbestand eines
unverjährbaren Verbrechens gegen die Menschheit im Sinne des Statuts
des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals.
Entgegen dem üblichen
deutschen Sprachgebrauch "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wird
hier die exaktere Übersetzung "Verbrechen gegen die Menschheit"
verwendet. Im Englischen existiert außer dem Begriff "crime against
humanity" auch der Begriff "crime against mankind". "Humanity" kann
Menschheit oder Menschlichkeit bedeuten, "mankind" bedeutet nur
Menschheit. Mit dieser Wortwahl kommt zum Ausdruck, dass von Verbrechen
dieser Dimension die gesamte Menschheit betroffen ist, ein Gedanke, der
im Völkerrecht fest verankert ist: Völkermord und Verbrechen gegen die
Menschheit wirken "erga omnes", also gegenüber allen: Niemand darf ihre
Resultate anerkennen, jeder soll zur Verhinderung solcher Verbrechen
beitragen und jeder darf und soll, wenn sie doch geschehen sind, zur
Bestrafung der Schuldigen beitragen.
Ein materieller Wert in
Billionenhöhe
Der Wert des durch die
Vertreibung verlorenen privaten Vermögens der Sudetendeutschen ist
nicht leicht zu schätzen. In einer Untersuchung von 1981 wurde dieser
Verlust auf 136 Milliarden EURO (in damaliger Kaufkraft) geschätzt. Zum
Vergleich: Die Steuereinnahmen des Bundes beliefen sich 1984 auf rund
102 Milliarden EURO. Der materielle Wert des Sudetenlandes insgesamt
ist noch weitaus höher: Öffentliche Vermögenswerte und natürliche
Ressourcen im weitesten Sinne müssen dabei berücksichtigt werden.
Ein grober Anhalt mag in
dem Preis liegen, den Japan vor wenigen Jahren Russland für die
Rückgabe der vier südlichen Kurileninseln angeboten hat, nämlich
mehrere Milliarden Dollar für ein kleines Territorium mit ursprünglich
40.000 Einwohnern. Bezogen auf die Fläche, Einwohnerzahl und
natürlichen Ressourcen des Sudetenlandes führt dies zu einem
materiellen Wert von rund einer halben Billion (= 500 Milliarden) EURO
in heutiger Kaufkraft (1999).
Allemal schwerer wiegt aber
der unersetzliche Verlust an Menschenleben und der kaum in Geldbeträgen
zu bewertende Verlust der Heimat für über drei Millionen Menschen. Auch
der Verlust einer blühenden Kulturlandschaft, der letztlich ganz Europa
betrifft, ist hier zu nennen.